Marken müssen was tun, um wirklich was erzählen zu können.
Von Mirko Kaminski
Gründer, Inhaber und CEO der deutschen Agentur Achtung!
Publikation mit freundlichem Einverständnis des Autors
Erstveröffentlichung des Artikels in der Beilage «Branchenreport Marketing 01/2016» der Werbewoche, Ausgabe 04-2016, am 26. Februar 2016
Immer mehr News, E-Mails, WhatsApp-Nachrichten, Beiträge auf YouTube und auf Facebook: Wir leben in einer Welt des dichter werdenden Infosmogs. Deshalb haben wir uns unseren individuellen Filter geschaffen. Der lässt nur noch das hindurch, was für den Einzelnen relevant ist, was ihn unterhält oder womöglich fasziniert. Aber welche Marke hat schon aus sich oder der Produktpalette heraus wirklich Bedeutsames, ja Faszinierendes zu bieten? Nicht jede Marke ist wie Apple oder Google.
Wenn man als Marke nichts Spannendes zu erzählen hat, dann kann man etwas tun, um solch eine Story zu schaffen. Immer mehr Marken tun daher was, schaffen was, probieren was, das starke Bilder und packende Videos liefert, Interesse weckt und zum grossen Thema wird. Das meint, über echtes Tun überhaupt erst einen Anlass dafür zu schaffen, dass über die Marke gesprochen und ihr das heute wohl Wertvollste geschenkt wird: Aufmerksamkeit. Es geht um Storydoing. Und Storydoing geht weit über Storytelling hinaus. Denn blosses Erzählen ist das eine. Zunächst etwas wirklich Relevantes zu tun oder zu schaffen, um dann Spannenderes zu erzählen zu haben, ist das andere.
Haben Sie schon einmal beim Blick nach oben eine Amazon-Drohne gesehen? Warum eigentlich nicht? Müssten davon nicht schon einige in der Luft sein? Es ist ja schon zwei, drei Jahre her, dass weltweit über die Amazon-Drohne berichtet wurde. Es ist eben zunächst einmal wirksames Storydoing gewesen: Amazon – eine hocheffiziente, aber daher eben auch irgendwie langweilige E-Commerce-Plattform – hat eine Drohne mit Logo fliegen lassen und mitgeteilt, so könnte irgendwann einmal Bestelltes zugestellt werden. Zu dem Zeitpunkt spektakulär. Storydoing, das etwas transportiert hat: «Wir bei Amazon sind innovativ und zukunftszugewandt!»
#LIKEAGIRL: Storydoing vom Feinsten
Beim Storydoing müssen zwei Dinge klug miteinander verbunden werden: die Kompetenz der Marke mit einem starken Human oder Social Insight. Es kann zum Beispiel darum gehen, ein existierendes Gesellschaftsthema zu benennen, dazu eine Diskussion zu entfachen und als Marke vielleicht sogar einen Lösungsbeitrag zu stiften, mindestens aber einen Denkanstoss.
Ein leuchtendes Beispiel dafür ist #LIKEAGIRL von Always. Die Marke spricht nicht über Damenbinden, sondern etikettiert ein übergeordnetes Problem: Mädchen verlieren in der Pubertät offenbar an Selbstvertrauen. Ein Grund: Viel zu oft heisst es, «Sei doch kein Mädchen!». Oder: «Du läufst ja wie ein Mädchen!» Always startet ein Experiment, zeigt, wie stark Mädchen vor der Pubertät eigentlich sind und dass Frauen so stark bleiben sollten. Always inszeniert es auf bewegende Weise und dokumentiert es dann ergreifend im Video. Die Marke tut etwas. Und die Botschaft geht um den Globus. Das Ergebnis: weltweite Resonanz und eine neue Sicht auf Always als Marke mit dem höheren Anliegen, Mädchen selbstbewusster sein zu lassen.
Samsung setzt auf überraschendes Tun
Ein anderes Beispiel für Storydoing zeigt, wie viel mehr Wucht etwas bekommen kann, wenn es sich durch Tun manifestiert und dann gepostet, geteilt, kommentiert werden kann. Als Samsung in der Türkei ein Servicecenter für Gehörlose einführt, belässt es die Marke nicht bei einer Pressemitteilung oder einer Anzeige. Die würden wahrscheinlich nur zu einer Handvoll kleinerer Meldungen führen. Die Marke entscheidet sich für den Storydoing-Weg und überrascht einen Gehörlosen. Dafür heckt die Marke mit der Schwester des jungen Mannes etwas aus. Alle Menschen, die ihm nach Verlassen des Hauses auf der Strasse begegnen, sprechen ihn plötzlich in Gebärdensprache an. Das hat er noch nicht erlebt. Er ist mächtig gerührt. Ihm kommen die Tränen. Dann wird die Sache aufgelöst. Im Video werden das Tun und seine Rührung festgehalten – und «gebrandet». Das Video berührt anschliessend Millionen und schafft es auch international ins Fernsehen.
Snack-Marke baut «Botschaft» und tut was gegen Arbeitslosigkeit
Mit Blick aufs Storydoing ist es sogar möglich, sich in einem Feld zu engagieren, das auf den ersten Blick gar nicht zu den Kompetenzen der Marke gehört. So hat sich die Snack-Marke Tortrix in Guatemala für adressendiskriminierte Arbeitslose im 18. Distrikt engagiert. Im 18. Bezirk herrscht so viel Banden- und Drogenkriminalität, dass Unternehmen dort wohnende Bewerber gar nicht erst zum Gespräch einladen. Sie bleiben chancenlos. Tortrix hat sich der Sache angenommen und für die im 18. Distrikt wohnenden Arbeitslosen ein «Botschaftsgebäude» in der City errichtet. Dort werden ihre Interessen vertreten und ihnen werden Jobs vermittelt: «The Embassy of the 18th Zone».
Das ist Storydoing, das weit mehr Buzz ausgelöst hat als neue Chips mit Chiligeschmack je hätten initiieren können. Es ist zudem ein Engagement im sozialen Bereich, das weit mehr berührt als jeder dröge CSR-Bericht. Was eine Knabber-Marke mit einem Problemdistrikt zu tun hat? Nun, was wird in einem sozialen Brennpunkt wohl überproportional häufig gesnackt?
SWISS appelliert, sich wieder mehr Achtsamkeit zu schenken
Airlines haben es im immer stärker werdenden Wettbewerb sehr schwer. Wie soll man auffallen und sich abheben, ohne dafür Millionenbudgets zur Verfügung zu haben? Die Airline SWISS trägt SWISSness, Gastfreundschaft und Achtsamkeit im Markenherzen und hat sich mittels Storydoing Medienpräsenz und Aufmerksamkeit verdient.
SWISS hat beobachtet, dass sich die Menschen immer mehr aus den Augen verlieren und die Staaten Europas sich offenbar immer weniger sehen und verstehen. Als eindrucksvollen Appell für mehr gegenseitige Achtsamkeit hat SWISS in Europas Metropolen monumentale Gebäude auf faszinierende Weise illuminiert: «The Art of Attentiveness».
Der Lichtkünstler Gerry Hofstetter projizierte die Augen von SWISS Flugbegleitern unter anderem auf die höchstgelegene Kirche Barcelonas – Sagrat Cor. Medien, Blogs und YouTuber berichteten. Die Bilder und Videos wurden geteilt, geliked und kommentiert. Das Ergebnis dieses von achtung! konzipierten Projekts: europaweit rund 2 000 Medienberichte. Gesamtreichweite: eine Milliarde. Und im europäischen Brandtracking legten die Markenwerte kräftig zu.
Es muss nicht immer soziales Storydoing sein
Storydoing kann auch ein wirkungsvoller Ansatz sein, um auf unterhaltsame Weise die Vorteile des eigenen Produkts zu demonstrieren. So hat es die Waschmittelmarke Radiant in Australien gemacht. Zwei Protagonisten kauften in Klamottenläden T-Shirts, Pullis, Hosen, unterzogen diese einem beispiellosen Härtetest, wälzten sich im Dreck, fuhren mit Motorrädern durch Schlammlöcher, wuschen die Sachen dann mit Radiant und gaben sie anschliessend als angeblich ungetragen in den Läden zurück. Problemlos. Das Video ging rum. Das ist witziges, unterhaltsames Storydoing und zudem eine Beweisführung in Sachen Produktleistung, die Menschen vielleicht mehr erreicht als so ein langweiliger Vorher-Nachher-TV-Spot.
Storydoing erlaubt auch Absurdes
Salta – eine südamerikanische Biermarke – ist Sponsor der Rugbyliga. Nun weiss jeder, wie schwer es sein kann, mit reinem Sponsoring Buzz auszulösen und Relevanz zu entfalten. Da bei Rugbyverletzungen fast alles heilt, nur herausgeschlagene Zähne nicht, hat Salta eine – sagen wir – innovative und aussergewöhnliche Lösung entwickelt: «Beer Tooth Implant» – ein MetalliImplantat, das als Ersatz für den verlorenen Zahn dient, eine nützliche Kerbe enthält und das Bierlogo zeigt. Mit der Kerbe können Salta-Flaschen geöffnet werden. Drei Rugby-Spieler haben sich solch ein Implantat tatsächlich einsetzen lassen.
Dieses «Neuprodukt» hat für unglaubliche Resonanz gesorgt – weltweit. Es hat die Marke ins Gespräch gebracht. Storydoing kann eben auch bedeuten, ein aussergewöhnliches Produkt eigens für Zwecke der Kommunikation zu schaffen, sei es noch so absurd. Eigentlich liegt das Erfolgsrezept hier gerade in der Überraschung und Absurdität.
Legitimation, Teil des Lebens der Menschen zu werden
Erfolgreiche Storydoing-Ideen ziehen sich durch alle Award-Kategorien und alle Award-Shows. Und sie kommen von Agenturen unterschiedlichster Herkunft: Werbung, PR, Digital ... Es sind Ideen, die sich nicht eindeutig eine dieser Disziplinensilos zuordnen lassen. Sie schweben eher oberhalb aller Disziplinen.
Diese Ideen gewinnen so viele Preise in unterschiedlichen Kategorien aber nicht nur, weil sie kreativ und innovativ sind, sondern auch, weil sie hochgradig wirkungsvoll sein können. Entscheidend ist, von einem wirklich kraftvollen Insight im Menschen oder in der Gesellschaft auszugehen, eine wirklich starke, kreative Idee darauf fussen zu lassen und sie sich in einem Derivat, in einer Manifestation, in echtem Tun und Handeln niederschlagen zu lassen.
Wenn es gut gemacht ist, löst dies weit mehr aus als ein TV-Spot, eine Anzeige oder eine Pressemitteilung jemals könnten. Der Marke gelingt dann nicht weniger, als sich über echtes Tun zu legitimieren, Teil des Lebens der Menschen zu sein oder zu werden. Etwas Mächtigeres kann eine Marke kaum schaffen.
Mirko Kaminski (geboren 1971) ist Gründer, Inhaber und CEO der deutschen Agentur achtung!, die unter anderem für SWISS und Nestlé tätig ist und 150 Mitarbeitende beschäftigt. Kaminski ist Juror unter anderem beim Cannes Festival, beim New York Festival und bei den PR REPORT AWARDS gewesen. Die Agentur ist unter den Top-Agenturen des deutschen PR-Kreativrankings und 2015 mit einer Kampagne für Swiss International Air Lines auch für den Swiss Award Corporate Communications nominiert gewesen.